Sowas muss doch heute nicht mehr sein …

Gedanken zur Pränataldiagnostik (PND)

von Mag. Monika Hallbauer,
aus der österreichischen Down-Syndrom Zeitschrift “Leben Lachen Lernen”, Heft 39, Dezember 2009

Zuerst war der Eintrag einer jungen Mutter im österreichischen Down-Syndrom-Forum über eine sozial engagierte Nachbarin, die sich im Gespräch mit ihr besonders freundlich zeigte, hinter ihrem Rücken jedoch folgende Aussage tätigte: “So ein Kind zu bekommen – das muss doch heutzutage nicht mehr sein!” Dem folgten meine Überlegungen: “Was antworte ich da drauf?” Und schließlich sprengte diese Antwort in meinem Kopf den Rahmen eines Forumseintrags, sodass ich beschloss mich dieser Gedanken auf anderem Weg “zu entledigen”, nämlich in Form eines Artikels.   

Ein unvollendetes Dokument dazu belegte ja schon seit etlichen Jahren Speicherplatz auf meinem PC, denn auch mir ist zumindest eine ähnliche Situation von vor 13 Jahren in Erinnerung: die Zwillingsschwestern Hanni und Kati – von Katis Diagnose Down-Syndrom wurde ich erst nach der Geburt überrascht – waren wenige Monate alt, als mir eine andere Mutter beim Smalltalk im Wartezimmer des Kinderarztes erklärte: “Bei meinem Arzt wäre mir sowas nicht passiert!” Zack, das hatte gesessen! Eigentlich hätte ich darauf ja antworten sollen: “Das ist mir auch nicht bei meinem Arzt passiert, sondern bei meinem Mann!”, so weit war ich damals allerdings noch nicht, also verteidigte ich mich sinngemäß: “Was hätte ich denn tun sollen – bei Zwillingen! Und obendrein war ich erst 34!” Nun, da war ich natürlich trotzdem fein raus im Vergleich zu anderen Müttern, die “nur” ein Baby hatten oder auch im Vergleich zu all jenen, die ab einem Alter von 35 Jahren zu “Risikoschwangeren” erklärt wurden! Mir konnte man also zum Glück nicht so leicht “Fehler beim Selbstmanagement während der Schwangerschaft” vorwerfen und dass ich die Geburt meines Kindes mit Behinderung – eines vermeidbaren Kostenfaktors – nicht verhindert hatte. Trotzdem nagte da irgendetwas an mir und zeigte nach einiger Zeit seine Wirkung: denn angesichts solcher negativer Botschaften haderte ich einmal mehr mit meinem Schicksal, fragte mich – trotz Zwillingsschwangerschaft – selbst, warum ich keine Untersuchungen gemacht hatte, und das, obwohl ich meinen kleinen Zwerg ja bereits richtig liebgewonnen hatte und es uns nach dem ersten Schock schon wieder gut ging.

Solche Aussagen scheinen heutzutage in einer Gesellschaft, die von festen Normvorstellungen und Leistungserwartungen geprägt ist, leider kein Einzelfall zu sein. Eltern von Babys mit DS – vor allem Mütter über 35 – berichten immer öfter, dass sie mit ähnlichen “Vorwürfen” konfrontiert werden – von Fremden, Freunden oder, was am meisten belastet, von der eigenen Familie: “Haben Sie denn keine Untersuchungen gemacht?”

Abweichungen, die immer früher vorgeburtlich testbar zu sein scheinen, werden offenbar gesellschaftlich immer weniger akzeptiert und als nicht tragbar eingestuft.

Prof. Dr. Etta Wilken betont in ihrem ausgezeichneten Artikel >> Ethische Fragen zur Bewertung PND und zum Schwangerschaftsabbruch, dass derartige unsensible Bemerkungen nachdrücklich zurückzuweisen sind. “Solche oft latent vermittelten negativen Einstellungen im sozialen Umfeld können den Eltern eine positive Bewältigung ihrer Lebenssituation erschweren, aber darüber hinaus auch eine Entsolidarisierung von Verantwortung der Gesellschaft bewirken.”

Was veranlasst andere zu solchen Äußerungen?

Ich gehe davon aus, dass die beiden oben zitierten Damen wohl selbst ziemlich überrascht wären, sich mit ihren Bemerkungen, mit denen sie wahrscheinlich bei der Mehrheit der Österreicher nicht unbedingt auf Widerstand stoßen würden, mitten in einem Artikel wiederzufinden. Ich vermute weiters, dass Menschen, die solche Aussagen tätigen, sich meistens nur oberflächlich oder zumindest einseitig mit diesem heiklen Thema auseinandergesetzt haben und häufig in Stammtischmanier auf Basis von dürftigem Wissen zu ihrer einfachen Schwarz-Weiß-Sicht der Dinge gekommen sind.

Meist wissen sie, dass die Diagnose Down-Syndrom in der Schwangerschaft gestellt werden kann, dass das Risiko mit dem Alter der Mutter steigt und dass sich über 90% der Eltern bei einem positiven Befund für einen Abbruch entscheiden. Viele kombinieren daher unrichtig, dass es nur noch wenige Babys mit Down-Syndrom gibt. In England belegt allerdings eine Studie aus dem Jahr 2008, dass trotz allgemeiner Verfügbarkeit von vorgeburtlichen Screenings sogar mehr Babys mit Down-Syndrom geboren werden als noch 15 Jahre zuvor. In Österreich und Deutschland gibt es zwar keine Zahlen zu den Geburten, der Eindruck von Down-Syndrom-Ambulanz, Kompetenzzentrum und Elterngruppen lässt jedoch zumindest keinen deutlichen Rückgang vermuten.

Zu diesem scheinbaren Widerspruch von nicht dramatisch sinkenden Geburtenzahlen trotz vieler Schwangerschaftsabbrüche nach der Diagnose kommt es, da einerseits das Gebäralter der Mütter angestiegen ist, sodass ohne PND heute mehr Kinder mit Down-Syndrom zur Welt kämen, vor allem aber auch deshalb, weil bei vielen die Diagnose gar nicht erst gestellt wird. Die Gründe dafür sind allgemein meist schon nicht mehr so gut bekannt:

Testergebnisse können irreführend sein: viele Eltern von Babys mit Down-Syndrom berichten, dass die Nackenfaltenmessung (Ultraschalluntersuchung in der 11.-14. SSW = Schwangerschaftswoche) bzw. der Combined Test im Normbereich lag oder aufgrund des niedrigen Risikos die Diagnose Down-Syndrom praktisch ausschloss.

Das “Risiko” einer 35-Jährigen, ihren Embryo infolge einer Fruchtwasseruntersuchung (Amniozentese) oder Chorionzottenbiopsie bei einem Abortus zu verlieren, ist annähernd so hoch, wie das Risiko ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen.

In den meisten Fällen ist nach der Diagnose, wenn entschieden wird, die Schwangerschaft nicht fortsetzen zu wollen, keine “normale” Absaugung (bis zur 14.SSW) wie bei einer “normalen” Abtreibung (bis zur 12.SSW erlaubt) mehr möglich, sondern muss medikamentös eine künstliche Fehlgeburt eingeleitet werden. Rechtliche Grundlage dafür ist die sogenannte “eugenische Indikation”, die in Österreich einen Schwangerschaftsabbruch auch nach der 12.SSW möglich macht, nämlich dann, wenn “eine ernste Gefahr besteht, dass das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde” – es reicht also bereits ein Verdacht!

Mitunter wird dieser Verdacht aufs Down-Syndrom erst spät nach einem Organscreening in der 20.-22.SSW geäußert. Sollte auch dann noch ein Schwangerschaftsabbruch gewünscht werden, dann wird in einem sog. “Spätabbruch” (nach der 22.SSW) zuerst das Kind im Mutterleib durch eine Kaliumspritze ins Herz getötet (= Fetozid), danach erfolgt die Einleitung einer oft schwierigen Totgeburt. Wenn nämlich das Frühchen die Zwangsgeburt überlebt, stünde der Arzt vor dem Dilemma, dieses Leben, das eben noch hätte beendet werden sollen, mit allen Mitteln retten zu müssen. Das im deutschsprachigen Raum bekannteste Beispiel dazu ist das Oldenburger Baby Tim, das 1997 schwerstbehindert einen Schwangerschaftsabbruch in der 25. Woche überlebte, obwohl es erst nach mehreren Stunden medizinisch versorgt wurde. In Österreich sind Spätabbrüche bis zur Geburt straffrei gestellt, es besteht allerdings eine nicht festgeschriebene Selbstbeschränkung der Ärzte, sich auf einen Zeitrahmen bis zur 28. SSW zu beschränken. Da es folglich nicht ganz einfach ist, hierzulande einen Arzt zu finden, weichen manche Eltern ins Ausland (z.B. nach Holland) aus, wo es solche Beschränkungen nicht gibt.

Solche Abbrüche haben mit einer normalen Abtreibung nichts mehr zu tun und stellen meist ein traumatisches Erlebnis für die Mütter dar.

Und auf der anderen Seite:

Das Leben mit einem Kind mit Down-Syndrom wird dank einer positiven Annahme trotz mancher Mehrbelastungen von den meisten Eltern als Bereicherung erlebt.

Viele Menschen mit Down-Syndrom erreichen heute mehr, leben länger und gesünder, führen also allgemein ein erfüllteres Leben.

Das sind einige der Gründe, warum sich ein kleiner, allerdings wachsender Anteil bewusst für sein anderes Kind entscheidet, wobei ich das “bewusst entscheiden” relativieren möchte, da das Kind ja nicht im Katalog bestellt wurde, sondern die Eltern den Dingen einfach ihren Lauf ließen. Das sind aber auch die Gründe, warum die meisten Eltern auch heute noch erst nach der Geburt mit der Diagnose Down-Syndrom konfrontiert werden.  

In Österreich hat sich Prenet, ein Netzwerk zur kritischen Auseinandersetzung mit Pränataldiagnostik (www.prenet.at), gebildet, welches durch umfassende Information zur Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung beitragen möchte. Trotzdem bleibt es wohl ein Wunsch, alle Menschen soweit aufzuklären, dass Eltern künftig Bemerkungen wie “Dagegen kann man heutzutage aber doch schon was machen!” erspart bleiben.

Wie ging und geht es mir bei solchen Bemerkungen?

Früher, als ich mich erst langsam “in den veränderten Alltag mit meinem Nicht-Standard-Kind einleben musste”, wie der oberösterreichische Autor Ludwig Laher in seinem Roman “Einleben” diese Situation so treffend beschreibt, belasteten mich die seltenen negativen Botschaften zumindest kurzfristig. Das vor allem auch deshalb, weil ich als Controllerin selbst gewohnt war, leistungsorientiert zu denken. Symptomatisch dafür war einer meiner ersten Gedanken nach der Diagnosestellung 3 Tage nach der Geburt: “Das wird teuer!”

Heute habe ich mich “eingelebt” mit meinem Kind und allgemeine negative Bemerkungen können mich höchstens “ernüchtern”, nicht mehr enttäuschen oder verletzen. Ich würde jedoch immer noch sensibel reagieren, wenn ich bemerke, dass Kati, mit ihren feinen Antennen, diese Ablehnung wahrnimmt. Das scheint allerdings zumindest derzeit bei uns kein Thema zu sein. Ob nun Kati “teuer” ist oder nicht, diese Frage stellt sich für mich nicht mehr, denn Kati ist mir jeden Cent wert! Auch ist da nicht einmal mehr der kleinste Funke von “hätt’ ich nur” oder “was wäre wenn-Denken”. Das hat sich so entwickelt aufgrund meiner engen Beziehung zu Kati, sicherlich aber auch dank vieler Reflexionen zu meinen Gefühlen und zur Pränataldiagnostik. Diese Überlegungen haben vor allem Gespräche mit werdenden Eltern, die meist in tiefer Zerrissenheit vor einer Entscheidung zwischen zwei für sie als Albtraum empfundenen Alternativen standen, ausgelöst. (Uns kontaktieren logischerweise nur jene Eltern, deren Entscheidung fürs Kind ausfällt bzw. Eltern, die noch unsicher sind, nicht jedoch diejenigen, für die ein Abbruch bereits feststeht.) Ich selbst bin jedenfalls froh, nichts von Katis Diagnose gewusst zu haben, denn mittlerweile weiß ich, dass ich gut mit Kati leben kann. Ungewiss wird für immer bleiben, wie es mir mit Plan B gegangen wäre!

Aufgrund meiner veränderten Gefühlslage ist mir aber auch bewusst geworden, dass ich möglicherweise manchmal – sicherlich nicht immer – auch Aussagen falsch ausgelegt habe. Eine Bemerkungen wie “Haben Sie denn keine Untersuchung gemacht?” kann interpretiert werden von: “Das ist doch ein Wahnsinn, so ein Kind, das nur Leid bringt und kostet, heutzutage überhaupt noch auf die Welt zu bringen! Die Eltern haben ja überhaupt kein Verantwortungsbewusstsein, wo’s doch heutzutage zum Glück schon die Pränataldiagnostik gibt!”, bis zu: “Ich mag Kinder mit Down-Syndrom ja grundsätzlich schon, ich glaube aber, ich hätte trotzdem so große Zukunftsängste, sodass ich bei einer Schwangerschaft eine Untersuchung gemacht hätte. Wie haben Sie es eigentlich geschafft, darauf zu verzichten?”

PND: Was ist meine persönliche Meinung bzw. was sind meine Werte?

Bei dieser Frage finde ich mich weitgehend im Einklang mit der Romanfigur Johanna, der Mutter von Steffi (Laher/Einleben, S.106): “Auf die heikle Frage, ab wann die Leibesfrucht mit Menschenrechten ausgestattet werden sollte, will sie sich auch heute noch nur beschränkt einlassen, weil jede Grenze letzten Endes willkürlich bleibt und sie mit der durch die Fristenlösung vorgegebenen ganz gut leben kann, obwohl sich manches dagegen ins Treffen führen lässt. Am grundsätzlichen Recht auf Abtreibung darf für Johanna kein Weg vorbeiführen, und wenigstens soviel an Urteil traut sie sich zu: Demut vor Zellagglomerationen kurz nach der Befruchtung erscheint ihr übertrieben, während sie die tödliche Ignoranz gegenüber prächtig entwickelten Menschen vom Zuschnitt ihrer Tochter nach fünf, sechs Monaten im Mutterleib als echtes Übel ansieht, vor allem als ein gesellschaftliches und als einen gesetzlich legitimierten Übergriff. Denn wo die betroffenen Frauen und ihre Partner überfordert sind oder sich für unzuständig erklären, hätte in diesen wenigen Fällen die Allgemeinheit einzuspringen.”

 

Natürlich stehe ich auch vollinhaltlich hinter der Stellungnahme von Down-Syndrom Österreich, in welcher eine umfassende Beratung vor Inanspruchnahme der Pränataldiagnostik sowie die gesetzliche Verankerung einer Bedenkfrist nach der Diagnosestellung gefordert wird.

 

Unabhängig davon möchte ich noch versuchen, die Frage zu beantworten, wie ich selbst – wahrscheinlich – diesen gesetzlichen Rahmen vor Jahren genutzt hätte bzw. mit meinem Wissen jetzt (ein reines Gedankenexperiment!) nutzen würde: damals hätte ich die Möglichkeit einer Abtreibung aufgrund meiner großen Liebe zu Kindern ziemlich sicher nie in Betracht gezogen, einen Abbruch aufgrund der Diagnose Down-Syndrom – wenn man einmal von der Zwillingsschwangerschaft absieht – eher schon.

 

Heute wäre eine Entscheidung für mich auch nicht ganz eindeutig, sondern könnte – vor allem auch in Abhängigkeit von der Einstellung meines Partners, den momentanen Lebensumständen und dem Zeitpunkt der sicheren Diagnosestellung – zu einer unterschiedlich großen Verzweiflung und Zerrissenheit führen. Angesichts meiner engen Beziehung zu Kati und der Tatsache, dass ich viele Menschen mit Down-Syndrom kenne und sehr schätze, erschiene mir allerdings ein “Nein” höchst unmoralisch, obwohl man ja durchaus argumentieren könnte, dass beispielsweise Eltern bei der Abtreibung eines unerwünschten Nachzüglers (ohne Down-Syndrom) auch nicht ihre anderen Kinder (ohne Down-Syndrom) vor Augen hätten. Ich würde mich deshalb ganz klar für die Alternative des “Nicht-Wissens-Wollens” und “Nehmen-Was-Kommt” entscheiden und auf diverse Untersuchungen bewusst verzichten.

 

“Nur ein kurzer Text”, so kündigte ich diesen Artikel an, und dann noch “ich schick ihn bald”. Keines von beiden ist mir gelungen! Jetzt, fünf Minuten nach dem Abgabetermin, beende ich diesen aus meiner Sicht immer noch unvollständigen Artikel (es fehlen u.a. Überlegungen zur Rolle von Medizin und Justiz) mit einem Zitat von Voltaire: “Der Mensch muss ein ungeheurer Ignorant sein, der auf jede Frage ein Antwort weiß.”